Archiv der Kategorie: Allgemeines/Soziales/Krieg

Der Blog zieht um!

Der Name des Blogs ist überholt, ich bin seit dem 29.08.2023 aus der Haft entlassen, inwieweit wir alle und damit auch ich wirklich „frei“ sind, das steht auf einem anderen Blatt. Der Blog hier wird nicht mehr mit neuen Beiträgen bestückt werden, es wird einen neuen geben.

Die Adresse des neuen Blogs lautet:
https://breakdownthewalls.site36.net/

Gehostet bei so36.net, die auch so freundlich waren, für den Umzug des Blog Rat zu erteilen!

Ich danke allen Leser*innen und Unterstützer*innen herzlich für das sehr langjährige Interesse, für die Geduld und auch die Ausdauer, den Support und freue mich, wenn auch der neue Blog auf Interesse stoßen sollte!

Sehr herzlich
Thomas

Radio-Interview zu Veranstaltung in Berlin, u.a.

Zu den beiden Veranstaltungen in Berlin und in einer ostdeutschen Stadt vom 13. und 14. Oktober 2023 findet sich auf der Seite von Radio Dreyeckland auch ein rund 15-minütiges Interview welches Fabian mit mir am 20.10.2023 geführt hat:

https://rdl.de/beitrag/die-bedeutung-von-soliarbeit-f-r-politische-gefangene

Die Bedeutung von Soliarbeit für politische Gefangene- über zwei Veranstaltungen

Am 13.10.2023 fand in einer nicht näher genannten Stadt in Ostdeutschland eine Gesprächsrunde von rund dreißig politisch aktiven linken Menschen statt- dort erzählte ich rund zweieinhalb Stunden über meine eigene Haftzeit und wie wichtig die erfahrene Solidarität durch die Strukturen ausserhalb der Mauern für mich und das Überleben war. Ich wollte nicht der Opa sein, der alte Geschichten auskramt, sondern Anspruch war, Menschen, die selbst oder deren Umfeld von Einknastung bedroht sind, einen kleinen Einblick in den aktuellen Haftalltag zu geben. Wie es gelingen kann, trotz der Inhaftierung Haltung zu bewahren. Welchen Preis das vielleicht kostet (z.B. keine vorzeitige Entlassung auf Bewährung), aber wie genau das dann die politische Haltung festigen helfen kann. Was ist zudem wichtig, aus Gefangenensicht, für die Soliarbeit: Vernetzung, Vernetzung, Vernetzung. Warum wird ein Großteil der Soliarbeit von Flinta* Personen bewerkstelligt, wo sind die Männer? Solche und andere Fragen wurden dort besprochen.

Für den nächsten Tag war im Bethanien in Berlin eine Diskussion mit sechs ehemaligen politischen Gefangenen geplant: vier Frauen und zwei Männer, darunter Philipp (aus dem Antifa-Ost-Verfahren, der mit seiner Namensnennung einverstanden ist), saßen vor den mindestens 130-140 Menschen, auf gleicher Augenhöhe mit dem Publikum. Die Moderatorin führte acht- und behutsam, aber mit strenger Hand durch die über zweieinhalb Stunden die folgten. Gesprochen wurde über die doch sehr unterschiedliche Umgehensweise im Frauen- und Männervollzug, denn die Bereitschaft über Gefühle zu sprechen ist unter Flinta* Personen weiterhin ausgeprägter als unter (zumal) Cis-Männern. Das ist dann auch für die Bewältigung von Krisen relevant, die gerade und auch im Gefängnis nie ausbleiben.

Es gab auch politische Einordnungen der gegenwärtigen massiven staatlichen Repression und die damit einherghende Notwendigkeit stabiler reaktionsstarker Solistrukturen, und was diese tun können um das Band zwischen drinnen und draußen, aber auch untereinander zu stärken. Die Gespräche zwischen den Ex-Gefangenen und dem Publikum waren geprägt von Offenheit und Respekt, was dann auch die Thematisierung von Sorgen und Ängsten ermöglichte, die stets mit einer Inhaftierung verbunden sind, denn dort erfolgt eine fast maximale Entmündigung und Entrechtung der Betroffenen. Erfreulicherweise hatten die Veranstalter*innen für eine Simultanübersetzung gesorgt, so daß deutsche Sprachkenntnisse nicht erforderlich waren um dem Gespräch folgen zu können. Von dem Erfahrungshorizont der sechs Ex-Gefangenen war die Zeit aus den Siebzigern bis in die Gegenwart abgedeckt, einschließlich interbationaler Bezüge und einem eindrücklichen Rückblick in die Isolationsfolter der 70’er, einschließlich der “toten Trakte”.

Zu der Veranstaltung in Berlin ist noch eine Broschüre in Planung, die wir hier auf RDL, sobald sie erschienen ist, noch vorstellen werden.

(zuerst erschienen am 20.10.2023 auf https://rdl.de/beitrag/die-bedeutung-von-soliarbeit-f-r-politische-gefangene )

“Ich vermisse Euch wie Sau” – eine Rezension

Ein Mensch ist gestorben. Im Dezember 2017. Er ist nicht bloß gestorben, er hat sich das Leben genommen. In Moçambique. Ricardo, ein Schwarzer in Dresden geborener Deutscher, war auf der Flucht vor der deutschen Justiz, die ihn in den Knast stecken wollte, als seine Kraft nach Jahren im Exil nicht mehr ausreichte und er sich das Leben nahm.

Vor kurzem erschien im Immergrün-Verlag das rund 220 Seiten starke Ergebnis einer instensiven Aufarbeitungs- und Auseinandersetzungsarbeit von Menschen welche Ricardo kannten, ihm teilweise sehr nahe standen. Einerseits handelt es sich um den Versuch, den Tod von Ricardo, der sich nach rund drei Jahren im Exil umgebracht hatte, zu verarbeiten: sich gemeinsam zu finden, zu stärken, zu trauern, zu weinen, aber auch um gemeinsam zu lachen und zu erinnern.

Zu anderen ist es erklärtes Ziel des HerausgeberInnen-Kollektivs, ihre Erfahrungen, Perspektiven und Erlebnisse zu teilen, um Diskussionen rund um die Bereiche Flucht, Exil und Illegalität anzustoßen.

In ihrem Vorwurf führt das Kollektiv in das anfängliche Gefühlschaos ein, nachdem die Nachricht vom Suizid Ricardos in Deutschland angekommen war. Und wie hieraus dann nach und nach die Idee entstand, sich nicht in die Vereinzelung zurück zu ziehen, wo jede und jeder selbst versucht mit Gefühlen der Leere, von Wut und Verzweiflung zurecht zu kommen, sondern wie man als Kollektiv Flucht, Exil und Tod Ricardos politisch kontextualisieren könnte. Um Diskussionen zu ermöglichen, um sich gegenseititg Halt zu geben und auch um das Andenken an Ricardo lebendig zu halten.

Es sind drei große Kapitel aus welchen das Buch besteht. Unter den Kapitelüberschriften Flucht, Exil und schließlich Illegalität werden wir nicht nur durch das aktivistische Leben eines 1986 in Dresden geborenen Schwarzen in Deutschland zur Wendezeit geführt, wir erfahren auch aus erster Hand wie hochpolitisch die 90’er waren, geprägt von der permanenten Konfrontation mit Neonazis und den staatlichen Repressionsbehörden. Auch wird durch die Schilderung von Ricardos politischem Aktivismus Zeitgeschichte ganz konkret fassbar gemacht und miterlebbar. In der Buchmitte finden sich zudem einige Fotos welche u.a. Ricardo gemacht hatte.

Im Anfangskapitel “Flucht” bekommen die Lesenden auch eine knappe Einführung in die Geschichte und Gegenward Moçambiques, geprägt von Kolonialismus und Unterdrückung, welche bis heute fortwirken.

Auf fast 40 Seiten finden sich e-mails von Ricardo, geschrieben im Exil Moçambiques, bis kurz vor seinem Tod. Sie sprühen an vielen Stellen vor Lebensenergie und Kraft, obwohl er in einem Land lebte in welchem er selbst zu den Illegalen zählte, jederzeit eine Polizeikontrolle und Inhaftierung füchtend, und an anderen Stelllen springt einen zugleich vorhandene Verzweiflung geradezu an.

Beschrieben wird zudem die Reise von einigen Menschen nach Moçambique, als sie erfuhren, dass Ricardo gestorben war und wie sie versuchen vor Ort mehr über den Alltag, das Leben und den Tod Ricardos in Erfahrung zu bringen.

Das Kapitel “Exil” findet sich ein lebenspraktisches Fragegespräch mit einem Anwalt rund um die rechtlichen Fragen von Flucht, Exil, Illegalität, insbesondere auch Antworten gebend welche Möglichkeiten Unterstützende haben, welche rechtlichen Fallstricke es zu beachten gibt. Vor allem geht es jedoch um die ganz praktischen Erfahrungen mit der Solidarität in der Zeit des Exils von Ricardo. Wie gestalteten sich die Kommunikation, die emotionale Unterstützung, finanzieller Support, rechtliche Beratung und auch die so wichtige politische Verantwortung: denn was bedeutet es, wenn ein Konzept gelebter Solidarität fehlt?

Was das Buch aus meiner Sicht so wertvoll macht, ist sein kollektiver Hintergrund. Denn auch wenn Anlass für das Buch der Tod eines vertrauten Menschen war, ordnet diesen das AutorInnen-Kollektiv in den größeren politischen Zusammenhang von Aktivismus, gelebtem Anarchismus, gelebter Gemeinschaft und Solidarität in einem Klima des täglichen Kampfes gegen faschistische Angriffe, gegen staatliche Repression, ein.

Im Schlusskapitel, “Illegalität” sind vier sehr spannende Interviews abgedruckt. Zum einen mit einem Menschen der die Erfahrungen teilt die gewonnen wurden, als es galt, einer flüchtenden Person Unterstützung zu gewähren, welche emotionalen und menschlichen Herausforderungen das gerade auch für unterstützende Beteiligte bedeutet.

In den weiteren Interviews berichtet Margit Schiller, verurteilt wegen Mitgliedschaft in der RAF, wie sie 1985 nach Kuba ins Exil ging, gehen musste (um so einer erneuten Verhaftung und auch möglichen Verurteilung zu entgehen). Dann folgt ein Gespräch mit Thomas und Bernd vom K.O.M.I.T.E.E. die seit 27 Jahren auf der Flucht vor der deutschen Strafjustiz nunmehr legalisiert in Venezuela leben; nach dem Interview, im Mai 2021 ist Bernd gestorben. Im vierten und letzten Interview gibt ein ehemaliges Mitglied der ETA über das Leben in der Illegalität, auf der Flucht vor der Justiz und welche Härten, aber auch Möglichkeiten dies mit sich bringt.

Das Buch sollte nicht nur in jeder linken Buchhandlung stehen sondern vor allem viel gelesen werden, denn die Repressionsspirale dreht sich immer weiter, und es wird immer Menschen geben die in die Illegalität getrieben werden, gehen müssen. Was dann? Wie geht das Umfeld damit um? Hier bietet das Buch “Ich vermisse euch wie Sau” einen aktuellen, vor allem authentischen und auch sehr selbstkritischen Einblick. Aber genauso auch Hilfestellung.

Bibltiografische Angaben:

Herausgeberkollektiv gata preta

Titel: “Ich vermisse Euch wie Sau”
Verlag: Immergrün (https://www.immergruen.cc)
ISBN: 978-3-910281-02-8

Preis: 12 Euro

Rezensent:

Thomas Meyer-Falk, z.T. Justizvollzugsanstalt (SV);
Hermann-Herder-Str. 8, 79104 Freiburg
https://freedomvorthomas.wordpress.com
http://www.freedom-for-thomas.de

Weshalb Solidarität mit „Letzte Generation“/“Extinction Rebellion“ wichtig ist – aus Sicht eines Langzeitgefangenen!

Im Herbst 2022, wieder wurden Temperaturrekorde gebrochen, haben sich politische Parteien sowie ein großer Teil der Medienhäuser in Deutschland verbündet, um mit Fake News oder an Fake News grenzender Argumentation und Berichterstattung Umweltbewegungen zu delegitimieren, moralisch zu diskreditieren und schließlich auch zu kriminalisieren. Wenn dabei von CDU über die SPD, GRÜNE bis hin zu Deutschlandfunk und BILD TV eine inoffizielle Allianz eingehen, dann dürfte das jedoch zu gleich auch Beleg dafür sein, dass die Aktivist*innen im Auto-Land BRD mit ihren Forderungen einen Nerv getroffen haben.

Jene Neugeborenen des Jahres 2022, zumindest im globalen Norden mit einer Lebenserwartung von über 80 Jahren, sie werden im 22.Jahrhundert, wenn sie dereinst im Schaukelstuhl sitzen, mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Welt leben, die in weiten Teilen unbewohnbar sein dürfte. Schon heute machen sich die Hungrigen dieser Erde auf den Weg zu den Schuldigen dieser Erde. Die Europäische Union, ebenso wie die USA versuchen durch ihre brutalen Grenzregime die hungrigen dieser Erde fern zu halten. Dabei geflissentlich übersehend, dass die Satten von heute die Hungrigen von morgen sein werden! Die dann ihrerseits an militärisch gesicherten Grenzen sterben werden.

Neben Krieg und Armut ist die Erhitzung des Planeten ein wesentlicher Migrationsfaktor. Jede*r mit offenen Ohren und Augen kann hören und sehen, wie sich G7/G20-Staaten in Millimeterschritten, wenn überhaupt, bewegen um dazu beizutragen die Welt auch noch in 100, 200 und mehr Jahren in weiten Teilen bewohnbar zu halten. Der Jugend von heute anzusinnen, sie möge sich „auf den Marsch durch die Institutionen“ begeben, erscheint ebenso weltfremd wie unverantwortlich. Die wirtschaftlichen und politischen Eliten der Gegenwart werden ihrer Generationen übergreifenden Verantwortung nicht gerecht (was letztlich, wenn wir ehrlich sind, auch niemand von ihnen erwartet), wenn sie versuchen relevante Veränderungen auf die Zukunft zu vertagen. Denn jetzt muss gehandelt werden. Nicht erst in 10,20,50 Jahren, sondern heute!

Angesichts dieser Ausgangssituation erscheint es mir geradezu existenziell, dass Menschen, welche unter Inkaufnahme von Verleumdung, Repression, in einigen Fällen sicherlich auch der Inhaftierung eben jene intergenerationelle Verantwortung ausbuchstabieren, unsere Solidarität erfahren. Sie handeln nämlich dort, wo die Mehrheit der Menschen es lieber bei einer Tasse fair gehandeltem Grünen Tee oder dem Grillnachmittag mit Billigfleisch im Garten bewenden lässt und über die letzte Hitzewelle oder Sturzflut allenfalls klagt. Während zur selben Zeit die Hungrigen an den Grenzzäunen oder im Mittelmeer namenlos, gesichtslos und stimmlos sterben. Während zeitgleich das Eis der Arktis weiter schmilzt. Während in weiten Teilen Afrikas der Boden verdorrt, das Vieh verendet und die Menschen verhungern!

Deshalb: Solidarität mit den Aktivist*innen von „Letzte Generation“, „Extinction Rebellion“ und „FFF“!

Thomas Meyer-Falk, z. Zt. Justizvollzugsanstalt (SV),

Hermann-Herder-Str.8, 79104 Freiburg

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Buchbesprechung – Willkommen in der Schweiz? Ein Erzählband von A.M.Güvenli

Anthropologische Wesensmerkmale auszumachen ist ein schwieriges Unterfangen, aber der Mensch als soziales Wesen bedarf Beziehungen in existentieller Weise.
Als Ungeborenes im Mutterleib ist es geborgen, nach der Geburt ist der Mensch nur in einem sozialen Kontext körperlich und erst recht seelisch überlebensfähig.
Bezogenheit auf andere Menschen erscheint also zumindest als ein Wesensmerkmal (auch wenn es der Mensch nicht exklusiv inne hat).
Wie ergeht es Menschen, die das Land, in welchem sie geboren wurden, verlassen, um in einem Staat Fuß zu fassen, zumal in einem oft so engem wie dem der Schweiz?

Vor kurzem erschien dort im „Verlag auf dem Ruffel“ das Buch von Asiye Müjgan Güvenli:
„Wie ich mich (nicht) integrierte – Flüchtigkeitsfehler“.
Es ist das zweite in deutscher Sprache erschienene Buch der 1957 in der Türkei geborenen Autorin.
In ihrem ersten Buch, „Gelächter, das die Mauern überwindet“, erzählte sie in kleinen Geschichten aus dem Gefängnisleben in der Türkei.
Mit dem nun publizierten Erzählband tauchen wir ein in den schweizerischen Lebensalltag der Autorin, wobei die teils sehr persönlichen Erlebnisse, von denen Güvenli berichtet, sich ohne weiteres auch in Deutschland oder Österreich genau so zugetragen haben könnten.
Teils berichtet sie eigene Erlebnisse, teils die von Bekannten, wie sie im Vorwort erläutert.

Wie es sich anfühlt als „fremd“ klassifiziert zu werden, wird in jeder der fast 30 Erzählungen schmerzlich spürbar.
Die ewige Frage nach dem „Wo kommen Sie her?“ (S. 15 ff) verbunden mit dem Hinweis „Sie sprechen aber gut deutsch“, wobei, so die Autorin, nie jemand sage, sie würde es sehr gut sprechen – immer nur „gut“.

Die LeserInnen sind mit dabei, wenn eine Schweizerin eine Mitbewohnerin sucht und stillschweigend unterstellt, diese sei sicherlich Muslima, schließlich kommt sie doch aus der Türkei, deshalb „halal“-Produkte einkauft und peinlich berührt zu sein scheint, als sich die neue Mitbewohnerin als Atheistin zu erkennen gibt – und zwar eine, die auch Schweinefleisch esse.
Nur um ihr dann zu erklären, wie man einen Holzlöffel korrekt nutze und was es mit dem Dampfkochtopf auf sich habe, denn so etwas werde man in der Türkei ja kaum kennen (S. 37 ff).

Wir erfahren, was passieren kann, wenn eine „Ärztin aus der dritten Welt“, die in einem Suchtzentrum arbeitet, sich erdreistet, statt arabischen Spezialitäten zum Frühstück für die Teamsitzung einfach nur Chips, Obst und Cake mitzubringen (S. 63).
Und auch der berüchtigte Topos von „Wir sind hier nicht in Afrika, sondern in Europa“ (S. 79 ff) begegnet uns.
Alles sehr dichte Geschichten und, ich komme darauf zurück, schmerzhaft zu lesen.

In einem Nachwort apostrophiert der Ethnologe und Judaist Jaeggi den Erzählband als ein „humoristisches Plädoyer für eine rebellische Integration“.
Sicherlich gibt es unterschiedliche Auffassungen von Humor, aber „humoristisch“ fühlte sich die Lektüre nicht an.
Verglichen mit dem eingangs erwähnten ersten Buch Güvenlis, in welchem sie auch eigene Gefängniserlebnisse verarbeitet und dort die Kraft des Lachens herausgearbeitet hatte, mit welcher die inhaftierten Frauen in der Türkei auf die Brutalität des Militärs und jener der Gefängnisbediensteten im Kollektiv und mit Solidarität antworteten, empfinde ich ihr neues Buch als schmerzbeladener.
Gerade, weil ihr und denjenigen, deren Geschichten sie erzählt, in der Schweiz nicht mit offener physischer Gewalt begegnet wurde, sondern mit dem Gestus der angeblich aufgeklärten, sich selbst oftmals als links und progressiv verstehenden „Einheimischen“, nicht selten auch dem „gut gemeintem“ Interesse.
Dabei aber rassistische Sterotype perpetuierend, daherkommend als „Flüchtigkeitsfehler“, wie auch der Untertitel des Buches lautet.
Diese kommen, wie sie Güvenli schildert, oftmals im Gewande dessen einher, was wir heute als „Mikroaggression“ bezeichnen.
Diesen über Jahre und Jahrzehnte ausgesetzt zu sein, als Mieterin, als Arbeitskollegin, Bekannte, Freundin, Mitfahrende im Zug oder im Bus, an jedem nur denkbaren Ort, wo Menschen einander begegnen, kann sodann tiefer wirken, tiefer verletzen, als es offen feindselige Brutalität seitens Gefängnispersonals vermag.
All das ändert aber nichts an den ständigen Bemühungen, doch irgendwie „dazu zu gehören“ und trotz allem die eigene Identität zu beschützen und an bestimmten Punkten auch die Integration zu verweigern.


Bibliografische Angaben zu dem rezensierten Buch:

Autorin: Asiye Müjgan Güvenli
Titel: „Wie ich mich (nicht) integrierte – Flüchtigkeitsfehler“
Seiten: 99
Verlag: Verlag auf dem Ruffel (Schweiz)
ISBN: 978-3-933847-63-8
Preis: 25 CHF


Rezensent:

Thomas Meyer-Falk
z.Zt. Justizvollzugsanstalt (SV)
Hermann-Herder- Straße 8
D-79104 Freiburg
Deutschland
https://freedomforthomas.wordpress.com
http://www.freedom-for-thomas.de

Über ein Buch zu linken Perspektiven auf Corona sowie linke Kritik(un)fähigkeit

Passend zur noch immer nicht überwundenen Corona-Pandemie und den überbordenden staatlichen Maßnahmen im Zuge der Bekämpfung der Pandemie ist kürzlich in der Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Arbeitskreise (AG SPAK) aus Neu-Ulm ein Sammelband mit 33 Beiträgen, sowie zwei dokumentierten Gesprächen unterschiedlichster Autor:innen erschienen, unter dem programmatischen Titel „Corona und linke Kritik(un)fähigkeit“.

Dem von Anne Seeck, Gerhard Hanloser und Peter Nowak herausgegebenen Band gingen 16 im Netz übertragene Diskussionsveranstaltungen voraus (auf https://www.vimeo.com nachzuschauen und nachzuhören), auf deren Grundlage in der Folge das vorliegende Buch entstanden ist.

In fünf Kapiteln wird sich dem Phänomen aus den Perspektiven „Corona und die Linke“, „Wen Corona und Lockdown besonders trifft“, „Die Profiteure“, „Medizin ist politisch“ und schließlich „Soziale Kämpfe und Gegenwehr“ angenähert.

Hanloser arbeitet in seinem Essay „‘Corona-Rebellen‘, Linke und Antifa“ (S.19 ff.) heraus, wie aus seiner Sicht die (radikale) politische Linke den Moment verpasst habe mit klugen Interventionen und Protesten Position zu beziehen und den Klassencharakter des Lockdowns zu skandalisieren und hinterfragt kritisch, auch mit Hilfe historischer Rückgriffe, die auf linken Demos zu hörende Parole „Wir impfen euch alle“, der er ein Gemeinmachen mit der Herrschaft attestiert.

Elisabeth Voß attestiert in „Linke Kritik(un)fähigkeit und patriarchaler Rollback“ (S.35ff.) der vorerwähnten Parole einen patriarchalen Impetus und vermisst zugleich eine respektvolle und gewaltfreie Kommunikation in einer Zeit, in der es offenbar viel eher um patriarchal geprägte Konkurrenz, Dominanz und Rechthaberei gehe, wo es eigentlich einer kooperativen, feministischen Haltung bedürfe. Dem schließt sich der Beitrag von Anne Seeck (S.43 ff.) an, welche unter dem Titel „Feministische Perspektiven in der Corona-Krise“ entwickelt. Familien, Alleinerziehende, andere marginalisierte Frauen und queere Menschen, ältere alleinstehende Frauen, sie alle hatten, so Seeck, ganz besonders unter der Corona-Krise und den Maßnahmen zu leiden. Feminismus, so fordert die Autorin, solle immer zusammen mit der sozialen Frage betrachtet werden.

Es ist nicht der Raum die vielen weiteren und sehr fundierten Beiträge näher vorzustellen. Selbstverständlich kommen viele der besonders von der Pandemie und den Maßnahmen betroffenen gesellschaftlichen Gruppierungen zu Wort: ob es in der (Alten-)Pflege ist, die Psychiatrie, die Obdachlosen, nicht zu vergessen die 60.000 inhaftierten Menschen. Es werden die (amoralischen) Corona-Profite besprochen, der Einsatz der Armee im Inland, die niemals wertfreie Medizin, die immer schon die Klassenlage widerspiegelte und wie (künftig) kämpferisch, auch in der postpandemischen Zeit Gegenwehr aussehen kann und muss.

Auch wenn, vermutlich verständlicherweise, in der Mehrzahl der Beiträge die Situation der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland im Fokus steht, möchte ich doch noch auf den Essay von Raina Zimmering, „Digitalisierung und Corona aus zapatistischer Perspektive“ (S.224 ff.) besonders hinweisen, denn der transnationale Charakter der Pandemie und der entsprechenden Maßnahmen ist offenkundig, zumal die Reaktion eines Großteils der Nationen erst mal darin bestand die Grenzen dicht zu machen und sich vom Rest der Welt abzuschotten. Zimmering stellt einführend in einem historischen Rückblick dar, wie die Zapatisten schon früh in ihrem Kampf die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen begannen. Das Phänomen der Digitalisierung, so die Historikerin und Lateinamerikanistin, hätten die Zapatistas zudem von Anfang an als Raum des Kampfes und Widerstandes begriffen. Neben den Vorzügen, seien auch die Gefahren, z.B. durch die Überwachung und Kontrolle begriffen worden und es sei versucht worden diesen zu begegnen.

Die Gefährlichkeit des Corona-Virus werde von den Zapatistas grundsätzlich ebenso anerkannt, wie die Notwendigkeit von hygienischen und gesundheitlichen Gegenmaßnahmen. Allerdings stellten sie die Umsetzung der Gegenmaßnahmen im Gefüge des Kapitalismus absolut in Frage, da aus deren Sicht die Corona-Maßnahmen der politischen Ruhigstellung der Ausgeschlossenen und Unterdrückten ebenso dienten, wie der Verhinderung des Widerstands hiergegen. Diese Tatsachen gewissermaßen dialektisch nutzend, so Zimmering, könne aus zaptistischer Sicht dazu führen, dass die weiter auseinander driftende Kluft zwischen Arm und Reich schneller auf globaler Ebene bewusst gemacht, Widerstand global koordiniert werde, um letztlich in ein gutes Leben für alle zu münden.

Das erscheint mir sehr optimistisch gedacht, aber letztlich geht es doch darum: zu erkennen, dass niemand eine Insel ist, dass wir als Menschen alle miteinander verbunden sind, wir gemeinsam für eine Veränderung kämpfen müssen und kein zweites Mal relativ widerstandslos die überbordenden staatlichen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen hinnehmen sollten.

Bibliographische Angaben: Corona und linke Kritik(un)fähigkeit – Kritisch-solidarische Perspektiven „von unten“ gegen die Alternativlosigkeit „von oben“.

Herausgeber:innen: Gerhard Hanloser, Peter Nowak, Anne Seeck

Verlang: AG SPAK Bücher (https://www.agspak-buecher.de/)

Preis: 19,00 €

Seiten: 239

ISBN: 9783945959596

Rezensent:

Thomas Meyer-Falk
z.Zt. Justizvollzugsanstalt (SV)
Hermann-Herder-Str.8
D-79104 Freiburg
https://freedomforthomas.wordpress.com
http://www.freedom-for-thomas.de

NS-Zwangsarbeit in Freiburg- eine Rezension

Vor wenigen Tagen wurde im südbadischen Freiburg, in Erinnerung an die NS-Zwangsarbeiter*innen auf dem Freiburger Grethergelände ein Mahnmal enthüllt.

Begleitet wurde das ganze von einer von der Historikerin Maxilene Schneider erarbeiteten Untersuchung zum Einsatz von Zwangsarbeiter’innen auf dem Gelände der ,,Freiburger Maschinenfabrik GmbH“.

Nach einem einführenden Überblick über die Funktion und Ausgestaltung der Zwangsarbeit im NS-Staat, widmet sich Schneider speziell der Lebenslage der mindestens 60 Zwangsarbeiter*innen, welche in der genannten Fabrik schuften mussten. Das Firmenarchiv gelte bis heute als „unauffindbar“ (S. 8), weshalb Schneider anhand anderer Akten, u.a. des Stadtarchivs, eine Rekonstruktion unternimmt. Sie zeigt auf, unter welch existenziell gefährdenden Lebensbedingungen die Betroffenen ihr Dasein fristeten, jederzeit von Verhaftung und Ermordung bedroht. Wie sie entrechtet, ausgebeutet und drangsaliert wurden.

Die Lebens- und Leidensgeschichten werden ganz besonders dort nachfühlbar, wo Schneider anhand der Beispiele der in den Niederlande geborenen Zwangsarbeiter Jakobus Rovers und des in Polen geborenen Roman Kowalczak Lebensgeschichten aufblättert, den nackten Zahlen ein Gesicht gibt. Ersterer wurde schlussendlich vom Freiburger Sondergericht am 28.01.1944 „als Volksschädling“ zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt (S. 23), da ihm vorgeworfen wurde versucht zu haben einer Frau eine Börse versucht zu haben zu stehlen. Rovers wurde verhaftet und am 24. November 1944 im KZ Neuengamme ermordet, wohl auf Weisung von Himmler, da er beschuldigt wurde, mit einer in Freiburg lebenden Frau ein Kind gezeugt zu haben (S. 26).

Wenn die Situation der Zwangsarbeit in der NS-Zeit lediglich anhand von Zahlen dargestellt und vermittelt wird, verbleibt eine viel zu große Distanz zu den einzelnen Menschen die gelebt und gelitten haben, die überlebten- oder aber ermordet wurden.

Schneider macht zudem deutlich, und macht dies auch durch Abbildungen aus Akten und Haftbüchern nachvollziehbar, mit welch zwanghafter bürokratischen Akkuratesse die Nationalsozialisten ihr Terrorregime auch im Bereich der Zwangsarbeit zur Durchsetzung brachten.

Die rund 40 Seiten bieten einen sehr kleinen, aber genauen Einblick in eine einzige Fabrik welche Zwangsarbeiter*innen rekrutiert hatte. So wie viele hunderte andere Fabriken gleichermaßen, deren historische Aufarbeitung noch heute auf sich warten lasst, auch um den damals geschundenen Menschen eine Stimme und ein Gesicht zu geben!

Bibliografische Angaben:

Maxilene Schneider, „NS-Zwangsarbeiter*innen auf dem Freiburger Grethergelände-Ausschnitt eines öffentlichen Massenverbrechens“

Verlag: jos fritz, https://www.josfritz.de
Seiten: 40
Preis: 8€
ISBN: 978-3-928013-91-8

Thomas Meyer-Falk, z.Zt. JVA (SV), Hermann-Herder-Str. 8, D-79104 Freiburg

Radiointerview zum Verbot von linksunten

Hier das Interview mit Thomas von Radio Dreyeckland

https://rdl.de/person/thomas-meyer-falk

Kämpferische Demo am Vorabend des 18. März 2020

Am Vorabend des 18. März konnten wir Gefangene in der JVA Freiburg
plötzlich Feuerwerksraketen hören und sehen. In Teilen des
Strafhaftbereichs wurden die Redebeiträge, die übers Megafon gingen, mit
Rufen begleitet. Hier, im Bereich der Sicherheitsverwahrung, kamen,
durch die verwinkelte Lage bedingt, nur Bruchstücke an. Am meisten
verstand noch S., dessen Zelle im 4. Stock liegt.

Der 18. März erinnert, auch und gerade in „Corona-Zeiten“ an jene
Menschen, die in den Gefängnissen auf der ganzen Welt festgehalten und
eingesperrt werden. Auf die Pandemie hat, dies nur nebenbei, die Justiz
mit massiven Einschränkungen reagiert. Neben einer Schließung der
Anstaltsbetriebe, was unmittelbare ökonomische Verluste für die prekär
beschäftigten Gefangenen bedeutet, fällt insbesondere das total
Besuchsverbot ins Gewicht. Lediglich AnwältInnen wird noch der Zutritt
gestattet, dann aber auch nur mit Trennscheibe. Im Bereich der
Sicherheitsverwahrung beginnt der „Nachteinschluss“ in den Zellen Punkt
15:45 Uhr (statt wie sonst 22 Uhr). In der gesamten Anstalt entfallen
sämtliche abendliche Freizeitgruppen und Gesprächsgruppen.

Trotz allem darf nicht übersehen werden, dass im Windschatten der
Pandemie viel relevantere, wesentlich existenziellere Bedrohungen von
Leib und Leben drohen vergessen zu werden; allen voran die Situation an
der griechisch-türkischen Grenze oder auch in Kurdistan.

Der 18. März, ja, er bringt die Gefangenen ins Bewusstsein, aber aus
meiner Sicht erinnert er vor allem daran, wofür es sich wirklich zu
streiten, zu kämpfen und zu leben lohnt: für ein freies, solidarisches
Leben!

Herzliche Grüße hier aus der JVA Freiburg, besonders an jene, die am
Abend des 17. März hier vor der Knastmauer waren. Kommt gut durch diese
Corona-Phase!

Thomas Meyer-Falk, c/o JVA (SV)
Hermann-Herder-Str. 8, D-79104 Freiburg
https://freedomforthomas.wordpress.com
http://www.freedom-for-thomas.de