Archiv der Kategorie: Literatur

Susan Boos: „Auge um Auge – Die Grenzen des präventiven Strafens“

Eine Buchbesprechung über die Sicherungsverwahrung in der Schweiz

von Thomas-Meyer Falk

https://rotpunktverlag.ch/buecher/auge-um-auge

Die ehemalige Redaktionsleiterin der Schweizer Wochenzeitung WOZ, Susan
Boos, veröffentlichte im vergangenen Jahr ein sehr lesenswertes Buch
über die Schweizer Variante der sogenannten Sicherungsverwahrung (SV und
in der Schweiz bloß „Verwahrung“ genannt).

Boos steigt tief hinab in die Kanalisation des Schweizer Straf- und
Justizsystems, dort wo selten ein Lichtstrahl hingelangt, geht es doch
vielfach um Menschen, die sich in besonders schwerwiegender und
verwerflicher Weise gemeinschaftszerstörend verhalten haben.

So macht uns die Autorin schon auf den ersten der rund 250 Seiten mit
Peter Vogt bekannt, einem seit 25 Jahren verwahrten Insassen, der sein
Recht auf assistierten Suizid durchsetzen möchte: Vogt hat Mädchen und
Frauen gewürgt und vergewaltigt! Auf Seite 13 begegnet uns Beat Meier,
ein pädokrimineller Straftäter, der über ein Vierteljahrhundert
inhaftiert ist. Boos schildert nüchtern und sachlich die jeweiligen
strafrechtlichen Hintergründe, wie auch Ausschnitte der Biografien der
Verwahrten. Sie berichtet, wie sie als Journalistin von Verwahrten
angerufen wurde, ihr Unterlagen zugeschickt wurden und sie sich
zunehmend für diesen Bereich des Strafrechts zu interessieren begann.

Im 3. Kapitel, ab Seite 23, referiert die Autorin ausführlich einen der
wohl spektakulärsten Mordfälle der letzten Jahrzehnte, als nämlich 1993
der schon wegen mehrfachen Mordes an Frauen einsitzende Hauert bei einem
Ausgang aus der Haftanstalt, er war auf dem Weg zu seinem Therapeuten,
eine 20-jährige Pfadfinderführerin entführte, ihr sexualisierte Gewalt
antat und dann ermordete. In Folge diese Verbrechens und einer weiteren
Tat, kam es zu einer Gesetzesinitiative, die schließlich in einem
eigenen Artikel der Bundesverfassung mündete und seitdem die
„lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche
Sexual- und Gewaltstraftäter“ vorschreibt.

Alle Verwahrten, gleich ob sie wegen schwerer oder vielfach auch
wesentlich weniger schweren Taten in die Anstalt gelangt sind, stehen
vor dem gleichen Dilemma: solange ihnen eine ungünstige Sozialprognose
attestiert wird, erfolgt keine Freilassung. Aber selbst wenn es dann mal
Therapeut*innen oder Gutachter*innen gibt, die sich optimistischer
äußern, günstige Veränderungsprozesse diagnostizieren, treffen diese auf
erhebliche Widerstände im Justizsystem. Es wird solange nach
Schwachpunkten gesucht, bis doch eine Fortdauer der Inhaftierung möglich
ist; nicht nur die Untergebrachten resignieren irgendwann, sondern
mitunter auch Beschäftigte, die dann lieber ihren Job kündigen, als
weiter mit dem Strom zu schwimmen. Auch hierüber informiert das Buch
„Auge um Augeerse“.

Den Gegenpol zu der Perspektive bilden die Gespräche der Journalistin
mit Vertretern des Justizapparates: allen voran mit dem weit über die
Schweizer Grenzen hinaus bekannte Psychiater Frank Urbaniok, ehemals
Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich. Er
kritisiert die Diagnosehörigkeit der forensischen Psychiatrie, wo
verschiedene Psychiater*innen bei Begutachtungen ein und desselben
Falles oftmals zu ganz unterschiedlichen Diagnosen kämen. Diesen stellt
er das aus seiner Sicht wesentlich hilfreichere und sicherere
„forensisch operationalisierte Therapie-Risiko-Evaluationssystem“ (kurz:
Fortres) gegenüber. Er hat es selbst entwickelt und es basiert auf einer
detaillierten Auswertung der Taten und Akten, umfasst dutzende von
Items, welche unterschiedlich gewichtet werden. Eine Form von
Daten-Fetischismus, um nicht zu sagen Totalitarismus, die auch in der
Fachwelt nicht ohne Widerspruch blieb.

In einem Interview mit dem Berner Strafrechtsprofessor Martino Mora
lotet Boos die Grenzen des „Präventionsstrafrechts“ aus. Was meint
„Präventionsstrafrecht“? Strafen sollen, so die Theorie, begangenes
Unrecht sühnen, sind also repressiv und vergangenheitsbezogen. Mona
macht geltend, dass schon seit Jahrtausenden der Präventionsgedanke
maßgeblich sei für Strafen. Professor Mona fordert einerseits ein
deutliches Vergeltungsstrafrecht, einschließlich der weitestgehenden
Abschaffung der Bewährungsstrafen, andererseits ist er ein lautstarker
Kritiker des vorbeugenden Wegsperrens von Menschen und antwortet auf die
Feststellung, man könne doch nicht alle (aus der Verwahrung) rauslassen:
„Doch, lasst sie raus – nachdem sie ihre verdiente und angemessene
Strafe abgesessen haben!“ Hier dürfte sich Mona vermutlich einig sein
mit der Dortmunder Professorin Dr. Graebsch (von dieser gibt es zur
Deutschen SV einen hörenswerten Vortrag als Podcast auf
https://www.rdl.de/beitrag/wegsperren-und-zwar-f-r-immer), welche
ebenfalls auf die letztlich nicht leistbare zuverlässige
Vorhersagbarkeit künftigen strafbaren Verhaltens und die
menschenrechtlich prekäre Lage von Sicherungsverwahrten hinweist.

Wohin das Präventivrecht führt, konnte man vergangenes Jahr in München
sehen, wo Aktivist*innen der „Letzten Generation“ für Wochen in Haft
verschwanden, um, so die staatliche Erzählung, zu verhindern, dass sie
sich an Straßen ankleben und so den Verkehr behindern.

Die Autorin besuchte im Zuge ihrer Recherchen in Deutschland einen
mittlerweile pensionierten Bewährungshelfer, der zuvor Jahre in
Freiburg (Breisgau) im Strafvollzug tätig war: Peter Asprion. Aktuell
sitzen in der BRD rund 600 Menschen in der SV, darunter zwei Frauen.
Peter Asprion zieht im Gespräch mit Susan Boos ein vernichtendes Fazit
hinsichtlich der SV. Da er ein Gespräch mit einem seiner ehemaligen
Klienten vermittelt, erfahren wir im Anschluss im Kapitel „Herr Roser
lädt ein“ von einem ehemaligen Verwahrten, der 26 Jahre einsaß (davon
22 in der SV), wie er nach seiner Freilassung 2010 für drei Jahre Tag
und Nacht von fünf Polizeibediensteten bewacht wurde, wie sich das
anfühlte und er dennoch -oder trotzdem- es schaffte sich in die
Gesellschaft zu integrieren.

Von Süddeutschland geht es nach Niedersachsen. Dort besucht die  Autorin
die Abteilung SV in Rosdorf, spricht mit Personal und Insassen, um
anschließend nach Berlin weiterzureisen, wo sie mit einem der
bekanntesten forensischen Psychiater, Prof. Dr. Kröber zum Gespräch
verabredet ist; und auch er betont, wie unsicher die scheinbar so
eindeutigen Gefährlichkeitsprognosen sind und man letztlich kaum
zuverlässig einen Rückfall vorhersagen könne, weshalb er dem oben
erwähnten Konzept seines Schweizer Kollegen Urbaniok nicht viel
abgewinnen könne.

Boos führt uns weiter in die Niederlande, in das Psychiatriegefängnis in
Zeeland wo 90 Männer und drei Frauen dauerhaft verwahrt werden und
berichtet wie dort die Bewohnenden untergebracht sind: nachts zwar
weggeschlossen in ihren Zellen, aber tagsüber auf einem von einem
Sicherheitszaun umgebenen Gelände, auf dem sie und auch Besuchende sich
frei bewegen können. Von Zeeland geht es weiter nach Stein in
Österreich. Im Jahr 2020 lebten von 8600 Häftlingen in Österreich über
1.400 in der Verwahrung (hier sei auf das Buch
„Maßnahmenvollzug: Menschenrechte weggesperrt und zwangsbehandelt“,
herausgegeben von Markus Drechsler, erschienen 2016 im österreichischen
Mandelbaum Verlag, hingewiesen, welches sich ausführlich der
spezifischen Situation dort widmet). Wie menschenrechtlich bedenklich
die Unterbringungsbedingungen für Verwahrte in Österreich sind, wird von
ihm sorgfältig herausgearbeitet.

Bei allen Gemeinsamkeiten, insbesondere was die Fragilität der
Sozialprognosen und die immer häufigere Anordnung von Verwahrung
anbetrifft, treten auch die Unterschiede zwischen Schweiz, Österreich,
Niederlande und Deutschland deutlich hervor. Denn wo in Deutschland
manche Angeklagte nach ihrem Urteil in der forensischen Psychiatrie
landen (aktuell sind das rund 6.000 Menschen), endet in anderen Ländern
das Leben in psychiatrischen Abteilungen regulärer Strafanstalten, mit dem
entsprechend strengen Strafvollzugsregime. Wo in Deutschland und der
Schweiz Anwält*innen vom Staat bezahlt und den Betroffenen beigeordnet
werden für deren gerichtlichen Prüfverfahren über die Fortdauer der
Verwahrung, müssen die Anwält*innen in Österreich kostenlos arbeiten,
die erhalten keinerlei Vergütung!

Besonders spannend finde ich, wenn langjährige Justizmitarbeitende wie
Thomas Manhart, ehemals Oberstaatsanwalt und „Chef Justizvollzug“, am
Ende ihrer Laufbahn ein im Grunde desaströses Fazit ihrer eigenen Arbeit
ziehen (Seite 111-118), eigentlich für eine Veränderung des Status quo
plädieren, aber augenscheinlich nicht den Mut und die Entschlossenheit
aufbringen, für diese offensiv(er) einzutreten. Letztlich hat er
Jahrzehnte einem System gedient, in dem er Karriere gemacht hat, ohne
darin, nun am Abschluss seiner Laufbahn, einen wirklichen Sinn zu
erkennen. Nicht jeder macht es so wie der langjährige, in Bayern und
Sachsen tätige Gefängnisdirektor Thomas Galli und hängt seinen sicheren
Beamtenjob vor dem Rentenalter an den Nagel, um sich für die Abschaffung
von Gefängnissen auszusprechen.

Wichtig erscheint mir, dass Susan Boos nicht mit Details über die
Vorgeschichte der Protagonisten spart. Es sitzen Menschen in den
Gefängnissen, die oftmals Schreckliches getan haben. Damit vermeidet Boos
jede Form von Sozialromantik. Wie umgehen auch mit diesen Menschen? Denn
Gesellschaften, welche die Todesstrafe abgeschafft haben, müssen sich
fragen lassen, ob ein lebenslanger Ausschluss von Menschen aus der
Gemeinschaft letztlich nichts anderes ist als „eine Todesstrafe auf
Raten“. Und sie müssen sich der Frage stellen, wo dieses immer
exzessivere, ja obsessiv anmutende vorbeugende Wegsperren von Menschen
enden soll!

Im Anhang des Buches finden sich ab S. 224 wichtige
Detailinformationen zu den „beliebtesten (forensischen)
Prognoseinstrumenten“ ebenso wie ein historischer Rückblick in das 19.
Jahrhundert und die „Vordenker der heutigen Verwahrung“. Sehr hilfreich
finde ich selbst die Übersicht der Gesetzestexte ab S. 242, wo die
strafrechtlichen Grundlagen über die Verwahrung in Deutschland, aber
auch Österreich und selbstredend auch der Schweiz, im Wortlaut zitiert
werden.

Susan Boos kommt in ihrem Buch nach 222 Seiten zu dem Resümee, man müsse
ernsthaft über Vergeltung sprechen, anstatt der Prävention alles zu
opfern. Die Grenzen und die schier unendliche Mängelliste, was die
Verwahrung angeht, arbeitet sie auf sehr anschauliche Weise heraus.
Dennoch handelt es sich bei ihrem Buch nicht um ein Plädoyer zur
Abschaffung von Gefängnissen als solche, wofür aber beispielsweise der
von ihr besuchte Peter Asprion plädiert, sondern um eines, welche die
Auswüchse des Präventionsstrafrechts anklagt und für eine Berichtigung
dieser Mängel streitet.

Wer sich über die dunkelsten Winkel des Präventionsstrafrechts und dessen zahlreichen Schwächen informieren möchte, bekommt bei Susan Boos einen aktuellen
und fundierten Einblick!


Bibliografische Angaben

Autorin: Susan Boos
Titel: Auge um Auge – Die Grenzen des präventiven Strafens

ISBN: 978-3-85869-944-2

Verlag: Rotpunktverlag (Schweiz), Preis: 25 Euro


Rezensent:

Thomas Meyer-Falk
z.Zt. JVA (SV)
Hermann-Herder-Str. 8
D-79104 Freiburg
https://freedomforthomas.wordpress.com
https://www.freedom-for-thomas.de

Über ein Buch mit Gefangenentexten aus der JVA Dresden

Im Frühjahr 2021 erschien im Verlag NOTschriften ein fast 300 Seiten umfassendes Buch, welches aus einer Vielzahl von Artikeln besteht, welche Inhaftierte, sowie einige der ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter*innen in den Jahren 2001 bis 2020 für die Gefangenenzeitung der JVA Dresen, „Der Riegel“, verfasst hatten.

Als Herausgeber*innen zeichnen verantwortlich Lydia Hartwig, eine ehrenamtlich in der Anstalt tätige Sozialpädagogin, sowie Prof. Ulfrid Kleinert, seit 2000 Vorsitzender des Beirats der JVA Dresden und Redaktionsmitglied von „Der Riegel“.

Nach Sachbereichen geordnet, werden in sieben Kapiteln Einblicke in „Kultur und Kunst“, „Knastalltag“, „Das Personal der JVA“ ebenso gewährt, wie in so prekäre Lebensbereiche, wie den allgegenwärtigen Umgang mit Drogen im Haftalltag, der Menschenwürde, aus Sicht der Inhaftierten, aber auch ganz elementaren, existentiellen Gefühlen, wie dem der Angst! Gerade die Angst der Gefangenen vor anderen Gefangenen wie auch vor sich selbst, ebenso vor dem Personal und vor der Welt vor den Mauern, wie auch die Ängste der Menschen außerhalb des Gefängnisses vor den Gefangenen, so mein Eindruck nach vielen Jahren der eigenen Inhaftierung, verdient entsprechende Beachtung.

Erfreulicherweise wird ebenfalls auf das Leben von ehemaligen Inhaftieren nach der Haft eingegangen. So finden sich Texte im Unterkapitel „Entlassung“, die ganz lebensnah und authentisch davon berichten, wie sich der Weg zurück in die Welt vor den Gefängnismauern gestaltet, wie es ist, dann mit einigen Euro in der Tasche, an einem regnerischen Tag vor den Mauern zu stehen.

Im Kapitel „Fachtagungen“ werden Texte rund um die u.a. von dem Verein Hammer Weg e.V. veranstalteten Tagungen präsentiert. Der Verein ist benannt nach der Strasse an der die Haftanstalt ihren Sitz hat. Wie man in dem Buch erfährt, ist der Hammer Weg seinerseits nach dem Dresdner Dichter Friedrich Julius Hammer benannt, gestorben vor nun bald 160 Jahren. Der Verein bietet Fortbildungsveranstaltungen für ehrenamtliche Betreuer*innen an, welche jeweils unter einem bestimmten Leitgedanken stehen. 2003 ging es um „Freiheit- und was dann?“, sieben Jahre später um die „Konfliktwahrnehmung und –bewältigung im familiären Umfeld bei Inhaftierung und in Freiheit“. Vieles kann nur angedeutet werden, und die Gefangenen sind auch keine professionellen Journalist*innen, sie schreiben aus ihrer Betroffenenperspektive, oftmals auch verallgemeinernd, Stereotypen folgend, aber immer authentisch. Dass im letzten Kapitel auch der poetischen Ader der gefangenen Menschen Platz eingeräumt wird durch den Abdruck von Gedichten, in denen die existenziellen Fragestellungen des Lebens verhandelt werden, ist besonders erfreulich.

Wer einen ziemlich ungeschminkten Einblick in den Haftalltag, die Sorgen, Nöte, aber auch Wünsche und Hoffnungen von Gefangenen im 21. Jahrhundert, hier mitten aus der sächsischen Hauptstadt bekommen möchte, findet in dem Buch viele Antworten. Da schadet es dann letztlich auch nicht, wenn das Buch nicht ohne Vorwort der Justizministerin auskommt, wobei in einzelnen Beiträgen durchaus hin und wieder ein Fehlen von kritischer Distanz zu beklagen ist.

Bibliografische Angaben:

„Ein deutsches Gefängnis im 21. Jahrhundert“

Hrsg. U. Kleinert/L. Hartwig

Verlag: NOTschriften (https://www.notschriften.de)

ISBN: 978-3-948935-14-6

Preis: 12,90 €

Thomas Meyer-Falk, z. Zt. JVA (SV), Hermann-Herder-Str. 8, D-79104 Freiburg

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Archiv: http://www.freedom-for-thomas.de

Wir sind die fucking Zukunft – eine Rezension!

Im Oktober 2019 erschien im unrast-Verlag ein kleiner Band der anarchistischen Aktivistin Hanna Poddig unter dem Titel ‚Klimakämpfe – Wir sind die fucking Zukunft!‘.

Auf den 103 Seiten bietet die Autorin eine zusammenfassende Übersicht zu brandaktuellen Handlungsfeldern insbesondere der jüngeren Generation. Ob Tierbefreiung, Mobilität (Auto, Flugzeug, Öffentlicher Nahverkehr, etc.), insbesondere die Klimabewegung. In drei großen Kapiteln werden zum einen die Themenschwerpunkte dargestellt in welchen sich die aktuellen Bewegungen besonders entwickeln, in einem weiteren die zentralen Motive und Zielsetzungen, und in einem dritten Kapitel die wesentlichen Akteurinnen und Akteure (von ‚Fridays for Future‘, über ‚Extinction Rebellion‘, bis hin zum ‚Hambacher Forst‘), und deren Strategien.

Wer sich also einen ersten Überblick verschaffen möchte über die Bewegungen im Bereich Klima im deutschsprachigen Raum, sowie deren Methoden um für ihre Ziele zu streiten und zu kämpfen, wird hier gut informiert.

Besonders wichtig erscheint mir das analytische Kapitel ‚Motive und Zielsetzungen‘, in welchem Hanna Poddig sich mit den Grundtypen der Motive der Handelnden beschäftigt: sie unterteilt nämlich die Bewegungen in jene die (lediglich) appellativen und jene, welchen einen revolutionären Anspruch erheben (in dessen abgemildeter Form wird auch noch der transformative Typ erwähnt). Beleuchtet wird die Frage, ob es genüge innerhalb des bestehenden Systems, bei Erhalt aller auch repressiver Strukturen, der Politik lediglich Anstoß zu geben, oder ob nicht doch eine revolutionäre und antiautoritäre Perspektive von Nöten sei (S.39 ff). Die Autorin beantwortet die Frage im letztgenanntem Sinne, was sicherlich auch Ausdruck ihrer politischen Haltung als Anarchistin sein dürfte.

In einem Exkurs (S.42 ff) führt sie in die unausweichlich für politische Aktivistinnen und Aktivisten sich stellende Frage der Gewaltfreiheit ein und kritisiert, wenn in bestimmten Zusammenhängen fast zwanghaft ein Bekenntnis zu absoluter Gewaltfreiheit abverlangt werde und dann die Abgrenzung auch noch in einer Diskreditierung von anderen Aktivisten/innen münde. Zutreffenderweise verweist sie zudem auf strukturelle Gewaltformen; fragt dabei eher rhetorisch, ob es denn keine Gewalt sei, wenn wegen des Klimawandels Menschen ihre Dörfer verlassen müssten und ganze Inseln im Meer versinken würden.

Im Kapitel über die ‚Akteur*innen und Aktionsformen‘ werden ‚Extinction Rebellion‘ (XR) relativ ausführlich dargestellt und deutlich deren Widersprüchlichkeiten aufgezeigt. Es wird deutlich, eine Freundin von (XR) ist die Autorin nicht (S. 55-64) wohingegen sie der noch sehr jungen Bewegung von ‚Fridays for Future‘ (S. 47-55) mehr abzugewinnen vermag, wobei sie auch dort Schwächen sieht, zum Beispiel in der exzessiven Nutzung von Instagram, Facebook und Co. Denn wer sich nicht in diese Kommunikationskanäle zwingen lässt, der sei ausgeschlossen von FFF.

Meist wird sehr deutlich wie die Autorin sich zu einem bestimmten Teil der Bewegungen positioniert. So heißt es schon im einleitenden Kapitel ‚Die leidigen Zahlen‘ (S. 5-9), sie halte Neutralität für unmöglich und erhebe deshalb mit ihrem Buch auch keinen solchen Anspruch. Allerdings hätte ich mir für manche wichtige Zahl die sie nennt genaue Quellenangaben gewünscht, zumal das Buch in der Unrast-Verlagsreihe „transparent“ erschienen ist. An das Internet angebundene Leserinnen und Leser werden dies vielleicht anders sehen, sie können wahrscheinlich die Quellen rasch nachgoogeln.

Abgerundet wird das Buch von Gedanken zur „Repression“ und einem Appell „ … gegen die Resignation“. Zur Repression führt Hanna Poddig exemplarisch die Beschlagnahme einer bunten Holzhütte durch die Polizei im Sommer 2018 an, als sie gerade auf dem Klimacamp im Rheinland war; zudem kritisiert sie das Verbot von‘ linksunten.indymedia.org‘ ebenso, wie die Verschärfungen der Polizeigesetze und ruft auf den Mut zu haben, sich auf die eigene (innere) Stärke zu besinnen. Nämlich nicht, wie es dann unter der Überschrift „ … gegen die Resignation“ heißt, den Kopf in den Sand zu stecken, sondern im Blick zu halten, dass der eigene politische Kampf nicht nur etwas in einem selbst befreit, sondern auch anderen Menschen mehr Raum zum Atmen gibt, mehr Raum zum Träumen und mehr Mut zu kämpfen!

Angaben zu dem Buch:

‚ Klimakämpfe – Wir sind die fucking Zukunft!‘

Hanna Poddig,

Unrast-Verlag (https://www.unrast-verlag.de)

103 Seiten, 7,80 Euro

ISBN: 978-3-89771-148-8

Buchbesprechung von:

Thomas Meyer-Falk, z.Zt. JVA (SV),

Hermann-Herder-Str.8, 79104 Freiburg

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Neoliberalismus im Knastsystem

Dieses Jahr erschien in deutscher Übersetzung das erstmals 2004 in Frankreich publizierte Buch „Bestrafen der Armen – Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit“ des in Paris und in den USA lehrenden Professors Loic Wacquant.

Die knapp 360 Seiten starke Analyse der straffixierten Wende in der Strafrechtspolitik gehört in jeden Bücherschrank eines an kritischer Auseinandersetzung mit Strafvollzug, Knastpolitik und Strafrechtsverschärfungen interessierten Menschen.

Schon im Vorwort bringt der Autor es auf den Punkt, wenn er das „Law-and-Order-Karussell“ anklagt, für die Kriminalität das zu sein, was die Pornografie für die Liebesbeziehung sei, nämlich „ein die Realität bis zur Groteske entstellender Zerrspiegel, der das delinquente Verhalten aus dem Geflecht der sozialen Beziehungen (…) künstlich herauszupft, seine Ursachen und Bedeutungen bewusst ignoriert“ um dabei der Kriminalitätsfurcht ebenso Nahrung zu geben, wie von ihr zu leben (a.a.O., S.13-15).

In 10 Kapiteln unterzieht Wacquant im Speziellen die Politik in den USA und Frankreich einer ebenso scharfen wie treffenden Analyse, was „Elend des Wohlfahrtstaats“ und „Größe des Strafrechtsstaats“, wie zwei Teil-Überschriften lauten, angehen. Das Elend und Ende des Wohlfahrtstaats ist nach Ansicht des Buchautors eng verknüpft mit der Hyperinflation der Anzahl der Gefängnisinsassen und der Strafrechtshysterie. Auf S. 117 weist Wacquant exemplarisch nach, wie im Rahmen einer Wohlfahrts-„Reform“ 1996 in den USA im vorhergehenden politischen Diskurs, wie auch im Gesetzestext selbst, beispielsweise „allein erziehende arme Mütter in aggressiver Form nicht als bedürftig, sondern als deviant charakterisiert, als eine Problemgruppe, deren Integrität (…) suspekt ist und deren angebliches Arbeitsvermeidungsverhalten dringend der Korrektur durch Ausschluss, Zwang und moralischen Druck bedarf“ diffamiert wurden. Also mit Techniken unter Druck gesetzt wurden, die „typisch für die Verbrechensbekämpfung sind.“

Erklärte Absicht des Autors ist es (a.a.O., S.18f) die „veränderten Aktivitäten der Polizei, der Gerichte und insbesondere der Gefängnisse“ aufzudecken, die „speziell auf das Management der `Problemgruppen` ausgerichtet sind, die in den unteren Regionen des sozialen und städtischen Raums hausen“.

Loic Wacquant will die Aufmerksamkeit der LeserInnen seiner Studie „auf den Zusammenschluss von Sanktionen im Strafrechts- und Kontrolle im Sozialhilfebreich zu einem einzigen Apparat der kulturellen Vereinnahmung und Verhaltenskontrolle von marginalen Populationen“ lenken.

Viele Zahlen lassen sich dem Buch entnehmen; auch wenn keine ganz aktuellen Werte vorliegen, so schmälert dies nicht ansatzweise die Kraft der Aussagen Wacquants.

Im Jahr 2000 standen 3% der Gesamtbevölkerung der USA unter staatlicher Überwachung oder Kontrolle (a.a.O.; S.149); immerhin jeder 20. weiße und jeder 10.schwarze männliche Erwachsene saß entweder im Knast, oder stand unter Bewährungsaufsicht. Instruktiv auch die Darstellung der wirtschaftlichen Macht und des Einflusses des Gefängnissystems: der Strafvollzugssektor stellt den drittgrößten Arbeitgeber in den USA, noch vor Ford (371.000 Beschäftigte), vor General Motors (646.000) oder UPS (336.000), mit ca. 708.000 Beschäftigten (a.a.O. S.171).
Wurden 1980 noch 50% mehr Gelder an allein erziehende arme Mütter ausgegeben, als Gelder für Knäste, drehte sich 1993 dieses Verhältnis um; und schon 1995 wurde 2.3 mal soviel Geld für den Strafvollzug ausgegeben als für bedürftige Mütter.
Diese und noch viel mehr Zahlen und Fakten, gut und umfangreich belegt, lassen sich in der Studie finden. Am beklemmensten fand ich die Schilderung seines Besuchs „in der größten Strafkolonie der freien Welt“ (a.a.O., S.161), in Los Angeles, wo 23.000 Gefangene in sieben Anstalten leben (1980 waren es noch 9.000 Menschen hinter Gittern).

Wie weiter oben dargestellt, zielt die Studie jedoch viel weiter als in der bloßen Wiedergabe der Zahlen; vielmehr ordnet sie die Entwicklungen im Bereich Strafvollzug/Strafverfolgung ein in die (zunehmende) Verfolgung der unteren sozialen Schichten. Ausdrücklich lehnte der Autor es jedoch ab, seinem Buch den Mythos eines „von übel wollenden und allmächtigen Staatsmännern verfolgte(n), bewusste(n) Plan zugrunde“ zu legen (a.a.O. S.19). Er betont ausdrücklich, dass nichts von alledem was er beschreibt und aufdeckt „von schicksalhafter Notwendigkeit“ ist, sondern stets „andere historische Wege“ offen stehen, „wie schmal und wie unwahrscheinlich sie auch sein mögen“ (a.a.O. S.19)

Für ihn ist das Gefängnis der heutigen Prägung ein Ersatzghetto, wie auch ein Mittel zur Abschöpfung von Wirtschaftskraft und zur sozialen Ächtung. Scharf geht er mit den völlig überschießenden gesetzlichen Entwicklungen in den USA im Umgang mit entlassenen Sexualtätern um (a.a.O., S.219ff), wohlwissend wie emotional besetzt dieses Thema ist.
Was das Buch bedeutend macht, ist der systemübergreifende Ansatz Wacquants, der aufzeigt, wie der Neoliberalismus nicht nur die sozialen Sicherungssysteme und den „Wohlfahrtstaat“ ergreift, sondern geradezu als integralen Bestandteil das Gefängniswesen benötigt. Deshalb schadet es auch der Studie nicht, wenn dort überwiegend Zahlen aus den USA oder Frankreich referiert werden, denn die zentralen Entwicklungslinien in USA wie Europa sich in zu vielen Punkten.

Alles in allem ist es eine ebenso gelungene wie wichtige Analyse, die auch dazu beitragen kann eigene Argumentationsstrukturen bei der Bekämpfung des Gefängniswesens zu untermauern und zu unterstützen.

Bibliografische Angaben:

Loic Wacquant, „Bestrafen der Armen- Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit“
erschienen 2009 im Verlag Barbara Budrich, ISBN 978-3-86649-188-5, Preis: 29,90 Euro.

Thomas Meyer Falk, c/o JVA-Z.3113, Schönbornstr. 32, D-76646 Bruchsal
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Hau ab, Mensch — eine Rezension

Wenn Nelson Mandela davon sprach, das Gefängnis beraube den Menschen
nicht nur seiner Freiheit, sondern suche auch ihm die Identität zu
nehmen, dann legt das hier zu besprechende Buch von Xose‘ Tarrio, der
2005 in Spanien starb, Zeugnis davon ab, wie Gefangene ihre Identität
verteidigen und trotz unmenschlicher, trotz erniedrigender Behandlung
und Folter ihr Mensch sein bewahren.

Zehn Jahre brauchte es, bis das im Original in Spanien („Huye, hombre,
huye. Diario de un preso FIES“) 1997 erschienene bibliografische Buch
von Xose‘ nun in deutscher Übersetzung vorliegt: „Hau ab, Mensch!“.

Auf über 300 Seiten berichtet Xose‘ von den einzelnen Gefängnissen, in
denen er im Verlaufe vieler Jahre festgehalten, geschlagen, in
Handschellen gelegt wurde. Dies ist der äußere Rahmen und ist schon
lesenswert genug, wird doch die zerstörerische Wirkung der Institution
Gefängnis deutlich. Ebenso faszinierend und ungleich mehr von Bedeutung
ist jedoch die innere Entwicklung Xose‘ Tarrios zu verfolgen. Er, der
mit 19 Jahren eine anderthalbjährige Strafe antreten soll und am Ende
ein Strafmaß von 71 (!) Jahren vor sich hat, als er 2004 ins Koma fällt
und Anfang 2005 stirbt.

Geprägt von vielen Jahren in Heimen und Erziehungsanstalten, ist er
gewohnt, sich gegen die Umstände, auf die er im Gefängnis trifft,
aufzulehnen — und landet unversehens in Isolationshaft.
Das Buch erzählt, orientiert an den einzelnen Gefängnissen, in die er
verlegt wird, die Entwicklung hin zu einem anarchistischen Menschen,
voller Wut ebenso, wie voller Liebe. Es erzählt von Solidarität unter
den Inhaftierten und ihren Aufständen — aber auch von der Enttäuschung
durch Verrat.

Auf Xose’s Schilderungen passt gut der Satz des Anarchisten Erich
Mühsam: „Trotz allem Mensch sein, wär’s auch mit dem Messer!“.
Wo immer er die Möglichkeit hatte, las Xose’s Bücher über Politik,
Literatur, Philosophie und diskutierte mit seinen Leidensgenossen über
das, was sie gelesen hatten. Je mehr sich der innere Horizont
erweiterte, umso mehr revoltierten er und die anderen Gefangenen gegen
die Mauern und die unmenschlichen Haftbedingungen.

Eine Übersetzung ist stets ein Wagnis, aber dem Übersetzer ist es
exzellent gelungen, die bilderreiche und kraftstrotzende Sprache Xose‘
Tarrios in das Deutsche zu übertragen.

Eingerahmt wird das Buch von einem Vorwort Gabriel Pombo da Silvas und
einem Anhang mit einem Interview, das im Juni 2005 mit den Müttern von
Xose‘ und Gabriel geführt wurde. Gabriel, selbst spanischer Anarchist,
verbüßt zurzeit eine lange Haftstrafe in Aachen. Er lässt sich auch dort
nicht mundtot machen und setzt den Kampf für eine Gesellschaft ohne
Knäste ebenso fort, wie die Mutter Xose’s. Gerade der Umstand, dass am
Ende die Mütter der beiden Gefangenen zu Wort kommen (wo hört man denn
sonst, dass sich Mütter von Inhaftierten öffentlich äußern?) trägt zum
Gelingen dieses empfehlenswerten Buchs bei.

Bibliografische Angaben:
Xose‘ Tarrio, „Hau ab, Mensch!“, 408 Seiten
ohne ISBN, zu beziehen über:
Buchladen König Kurt
c/o AZ Conni e.V.
Rudolf-Leonhard-Str. 39
D-01097 Dresden
Tel. 0351 — 81 15 110, email: Koenig-Kurt@free.de,
http://www.free.de/Koenig-Kurt
Preis: 10 Euro, zzgl. Versandkosten

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